Kinderarmut

Eigenverantwortlichkeit zu Lasten der Kinder

Durch die neue Sozialgesetzgebung SGB XII (Hartz IV) sind besonders die Kinder in ihrer materiellen, finanziellen und gesundheitlichen Versorgung betroffen. Die Erfahrung zeigt, dass das eigenverantwortliches „Ansparen“ für Anschaffungen – von Bekleidung bis zu Haushaltsgeräten – in finanziell armen Haushalten nicht annähernd funktioniert bzw. funktionieren kann. Davon abgesehen, dass zu Beginn der Umstellung ja noch niemand „Rücklagen“ für Anschaffungen gebildet haben konnte, setzt sich dieses Problem kontinuierlich fort. Die monatlichen Regelsätze sind so niedrig, dass in einer Familie davon kaum / nichts gespart werden kann.

An folgenden Beispielen soll der im Regelsatz vorgesehene geringe Anteil für Kinder und deren Bedürfnisse verdeutlicht werden:

  • 50 € im Jahr sind im Regelsatz für den Kauf von Kinderschuhen vorgesehen. Für 50 € gibt es vielleicht und mit Glück je ein Paar Sandalen, Halbschuhe, Winterschuhe – aber dann in einer Qualität die oft nicht ein Jahr lang hält. Ein paar Schuhe zum Wechseln oder Sportschuhe sind nicht inbegriffen sowie das Wachsen der Kinderfüße nicht berücksichtigt. Um diese Notsituation zu lindern, sammelt z. B. der Kindertreff am Fischbacherberg Kleidung, Schulranzen und alles was für Kinder brauchbar ist.
  • Der Fahrradführerschein wird üblicherweise im 3./4. Schuljahr durchgeführt. Die Polizei denkt darüber nach, dieses Projekt in sozialen Brennpunkten einzustellen. Es mangelt an der notwendigen Praxis (keine eigenen Fahrräder) und der entsprechenden Ausrüstung wie ein Helm. Wer finanzielle Mittel zur recht freien Verfügung hat, kauft einen günstigen Helm im Angebot bei Aldi für 8 € oder einen teureren im Fachgeschäft. Ohne den finanziellen Spielraum löst der Kauf eines Helmes eine finanzielle Familienkatastrophe hervor.
  • Alle weiteren notwendigen Anschaffungen für die Kinder (Sommer- und Winterkleidung, neue Matratze, Schulranzen, Klassenfahrt…), die früher durch Anträge in der Sozialhilfe bewilligt worden sind, müssen nun monatlich angespart bzw. zurückgelegt werden. (Eine Ausnahme gibt es mittlerweile auf Intervention der Kirchen hin bei den Kosten für Konfi-/Kommunionbekleidung).

Aber nicht nur Anschaffungen, sondern auch Kleinstbeträge und die Versorgung mit Essen ist nicht mehr gewährleistet. Ende des Monats ist kaum / kein Geld für die Finanzierung des Kakaogeldes, für das Frühstück, erst Recht nicht für die Klassenkasse oder eine Klassenfahrt, Hefte, Bücher, Kopien, Eintrittsgelder... übrig. Die erste Frage bei jeglichen Angeboten egal ob in Schule oder Kinder- und Jugendtreff lautet:
„Kostet das was?“

Eltern sind nicht mehr so kindzentriert

Viele Eltern sind in dieser Situation restlos überfordert. Mit 24 Jahren das vierte Kind, ohne stabile Beziehung, also auch ohne eigene Jugend, ohne entsprechende Ausbildung und Möglichkeiten. Die Armut wird von Generation zu Generation vererbt, weshalb meist auch keine Oma, kein Opa da ist, die mal aushelfen können. Man bleibt unter sich – kommt kaum aus dem Quartier raus. Viele der Mütter sind im Höchstfall zweimal im Leben bis nach Köln gekommen. Der Trend geht zu Technik - teils auf Kosten der Nahrungsversorgung. TV, Handy, Video, Spielekonsole – nicht zuletzt als Fluchtmittel aus Tristesse und Isolation.

Es kommt vor, dass Eltern nicht sehen, nicht sehen wollen, wie ihre Kinder herumlaufen und was ihnen fehlt. Eltern müssen von LehrerInnen und SozialarbeiterInnen sehr häufig auf ihre Verantwortung aufmerksam gemacht werden, erinnert und gefordert werden. Kinder sehen zunehmend in ihren Eltern nicht mehr ihre AnsprechpartnerInnen, nicht mehr diejenigen die für sie sorgen (können), auf die man sich verlassen kann. Das führt zu ständigen Konflikten zwischen Eltern und Kindern zum Beispiel bei geforderten Geldbeträgen seitens der Schule („Bitte bring morgen das Geld mit!“ „Du weißt doch, am Monatsende haben wir alle kein Geld mehr!“).

Die Auswirkungen der Armut
  • Kindergeburtstage werden kaum / nicht gefeiert. Kaum ein Kind nimmt andere mit zu sich nach Hause. Es ist kein Geld für Feiern, Kindergeburtstage, „Mitgeb-Tüten“ übrig. Die Frage: „Was hast Du geschenkt bekommen“, trauen sich die Kinder nicht zu stellen oder zu beantworten. „Mama wollte heute Nachmittag noch in die Stadt um mir was zu besorgen.“.Dabei kann es durchaus passieren, wenn der Geburtstag am Monatsanfang liegt, dass ein Fahrrad oder Gameboy geschenkt wird. Am Monatsende wird eine geringerer finanzieller Betrag für ein Geschenk eingesetzt und dies auf Kosten der Grundversorgung.
  • Ausgrenzung und Diskriminierung durch Armut wird von Kindern in ihrem Sozialraum / Quartier weniger empfunden, weil alle „so“ sind. Arm sind nach eigener Einschätzung eher die Kinder in Afrika. Dies heißt allerdings nicht, dass die Kinder keine Ausgrenzung empfinden, denn sie sehen selbstverständlich in den Geschäften, im Fernsehen etc. was andere sich leisten können.
  • Jüngere Kinder sind stärker betroffen und gefährdet als ältere, weil sie weniger durchsetzungskräftig in den Familien sind. Ältere fordern nachhaltiger und gehen zur „Selbstversorgung“ über, wenn es zu Hause nicht klappt. Sie suchen aus eigenem Antrieb Hilfe auf und lernen auch, illegal zu „organisieren“.Handlungsansätze in Siegen

In Siegen werden ca. 150 Kinder in der Schulsozialarbeit betreut. Davon 54 am Fischbacherberg, 25 am Heidenberg aber auch in Weidenau, Eiserfeld...
Essen und feste Rituale sind von den Kindern sehr gefragt. Die Kooperation Schule und Sozialarbeit ist ein Erfolgsmodell, die Schule schickt die Kinder, die es brauchen, zur Schulsozialarbeit (ein niedrigschwelliges Angebot an Hilfe zur Erziehung nach dem SGB VIII). Es gibt in der Schulsozialarbeit eine „gesunde Mahlzeit“, persönliche Zuwendung und Betreuung, Hausaufgabenhilfe, Gespräche mit Schule und Eltern. Dank privater Sponsorengelder ist eine Notfallhilfe möglich (Nachbar in Not, Frauen vom Golfclub) und Geld für Essen da.

Die offene Ganztagsschule (OGS) erreicht nicht die intensive sozialpädagogische Arbeit der Schulsozialarbeit. Das Angebot erreicht aber mehr Kinder und ist bei geringer finanzieller Ausstattung erstaunlich arbeitsfähig. Dadurch können viele Kinder im Rahmen der OGS Musikschule-, Sport- und Kulturangebote besuchen, die sie sonst nie auf Grund der Hürden wie Teilnahmegebühren, Mitgliedsbeiträgen sowie Fahrtkosten kennenlernen würden.

Kein Kind ohne Mahlzeit ist ein Programm der Landesregierung – im Rahmen der offenen Ganztagsschulen. Allerdings musste der begrenzte „Fördertopf“ schon nach kurzer Zeit aufgestockt werden, weil das Geld nicht reicht. Hinzu kommt, dass alle Eltern einzeln beim Amt antreten und selbst einen Antrag stellen müssen (früher konnten SchulsozialarbeiterInnen Hilfe-Anträge mit den Eltern ausfüllen, sammeln, abgeben), woran ein Großteil der Betroffenen scheiterten.

Die Siegener Tafel hat mit zunehmender Tendenz bereits 3300 KundInnen und versorgt einmal pro Woche die Förderschule mit geschmierten Broten. Sie arbeitet bislang ohne Zuschüsse aus dem Stadtsäckel. Ein Unding: Die Versorgung mit Lebensmittel wird zunehmend zur privaten Hilfeleistung.

Fazit: wir wollen noch weiter an dem sozial- und bildungspolitischen Thema arbeiten!
  • Kostenlose Mahlzeiten in Ganztagseinrichtungen. Die Initiativen der Grünen im Rat und im Kreistag auf kostenlose Mahlzeiten in Kitas für Elterneinkommen bis 25.000 € sind ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung. In den Ausschüssen wurde dies bereits beschlossen, der Beschluss im Rat und Kreistag steht noch aus.
    Gleiches muss in Ganztagsschulen und Förderschulen angegangen werden!
  • Mehr Ganztagseinrichtungen sowohl in Kitas als auch in Schulen, Ganztagsangebote für Förderschulen müssen unbedingt eingeführt werden. Hier ist der Kreis von Betroffenen besonders hoch sowohl bei Mahlzeiten wie bei allen Förderangeboten und kulturellen Angeboten- Lernmittelfreiheit wieder einführen/ Studiengebühren abschaffen
  • ein Unbürokratischer Notfalltopf/Fond im städtischen Haushalt sollte bereitgehalten werden, denn zur Zeit werden Notfälle NUR über private Spenden bearbeitet. Notfälle können nicht nur Stiftungen und Spendern und privaten Initiativen überlassen werden. Die Einwerbung von Geld beansprucht und bindet hohes Zeitbudget der Betreuungspersonen und ist eine staatliche Aufgabe!.
    Notfallfonds im Haushalt einrichten!
  • Kinder brauchen eigenständige Rechte. Die Verankerung eigenständiger Kinderrechte würde die Elternabhängigkeit der Kinder verringern und die Pflicht des Staates erhöhen.

Zunahme von Kinderarmut spiegelt logischerweise die soziale Gesamtentwicklung der Gesellschaft, wobei allerdings Kinder bzw. Familien mit Kindern ungleich öfter betroffen sind. Die Spaltung in der Gesellschaft wird größer. Chancengleichheit und Durchlässigkeit bei Bildungsangeboten geringer. Wir sehen grüne Mitverantwortung – s. Hartz IV – und Nachholbedarf in der grünen Sozialpolitik. Neben grünem Schwerpunkt vor Ort muss dies vor allem Richtung der Verantwortlichen in Bundesverband- und fraktion transportiert und kommuniziert werden.



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